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Kuhflüstern

25 Sommer arbeitete ich als Hirtin auf Hochalpen im Graubünden/Schweiz, davon 19 auf Zanutsch im Prättigau. Die Kuhalp mit 70 Milchkühen und Käserei liegt in der Mitte des ca. 13 km² grossen Geländes. Talauswärts, in einem Halbkreis drumherum ist das Reich der Mutterkühe, ca. 65 Kühe mit ebensoviel Jungtieren und bis zu 30 Geburten während des Sommers, taleinwärts bis auf 2300m hoch das des Jungviehs der Milchkühe, ca. 80 Stück. Das Team bestand aus 4 Personen. Ich hatte die Verantwortung für das Weidemanagement und die Gesundheit aller Tiere, also insgesamt ca. 280 Stück plus die während des Sommers geborenen Kälbchen.

 

Aus dem Tagebuch

Die schwarze Angus-Kuh hat heute gekalbt. Das Neugeborene hat an beiden Vorderbeinen verkürzte Sehnen. Das gibt es manchmal. Es gelingt ihm zwar aufzustehen, es kann sie jedoch nicht durchstrecken. Dementsprechend wackelig steht es da. Dafür hat sich die Kuh nicht gerade den besten Platz ausgesucht. Hier, am hinteren Ende dieser obersten, sich über einen ca. 2 km langen und 2100m hohen Bergrücken ziehende Weide, gibt es Felsen, Geröll und einen steilen Abhang. Genau da drüber an der Kante hat sie es platziert.

Die Angus-Herde habe ich dieses Jahr neu dazu gekriegt. Bisher hatte ich eine sehr bunte Herde mit Limousin-Einkreuzungen, die alles andere als Schmusetiere sind. Sie lassen in den ersten 10 – 14 Tagen niemand anderes als ihren Besitzer in die Nähe ihrer Kälber. Manchmal verstecken sie sie in diesem kleinstrukturierten Gelände so gut zwischen Alpenrosen, Wachholder, Tannen und Tännchen oder Steinen, dass ich sie vergeblich suche. Oder auch mal unverhofft beinahe drüberstolpere. Es erfordert von mir äußerste Wachsamkeit und Vorsicht, um die Mütter nicht zu beunruhigen oder gar zu erschrecken. Wenn die Hormone getriggert werden, sind sie zu allem fähig. Ich habe gelernt, durch Intuition und Beobachtung der Mütter abzuspüren, ob mit dem Kalb alles in Ordnung ist. Zum Markieren und wenn es mal Komplikationen gibt, rufe ich die Besitzer dazu. Letzteres ist tatsächlich selten der Fall. Die homöopathische Medizin verabreiche ich per Blasrohr und muss so nicht ganz zu den Tieren hin.

Das zum Thema Abkalbungen. Ansonsten haben wir in den vielen Jahren eine weitgehend entspannte Zusammenarbeit entwickelt. Eine Kuh, die im 1. Sommer auf der Alp geboren ist, erträgt die Nähe der Menschen nicht. Solange ich genug Abstand einhalte, ist sie kein Problem. Ich muss halt ständig auf der Hut sein. Das Salzen ist da eine besondere Herausforderung. Nur einmal war ich zu unvorsichtig. Da hat sie mich in einem hohen Bogen auf Abstand gebracht.

Ganz oft werde ich genau da hingeführt, wo es mich gerade braucht. Das ist in diesem großen und wie gesagt unübersichtlichen Gelände nicht selbstverständlich.  Einen geplanten Weidewechsel kommuniziere ich mental. Das funktioniert recht gut. Sie stehen dann meist prompt am Zaun, sodass ich sie nicht zusammensuchen brauche. Wenn doch mal welche fehlen, rufe ich in einem bestimmten Ton, so laut, wie ich kann. Wenn sie mich hören, kommen sie.

Nun, mit dieser neuen Angus-Herde und noch einem munteren Grüppchen von rhätischem Grauvieh ist dieses Jahr die Zahl der Kühe auf 65 gestiegen.

Mit der Angusrasse habe ich noch keine Erfahrung. Sie sind sehr bullig und halt sehr schwarz. Das beeindruckt. Man sagt ihnen auch nicht gerade ein freundliches Wesen nach. Ich hätte das Kalb gerne an einen sichereren Platz gebracht. Würde die Mutter das tolerieren? Die Abenddämmerung setzt schon ein, so beschliesse ich, es morgen früh zu versuchen. Hab ja auch noch eine halbe Stunde Abstieg zur Hütte.

Da es ein warmer Tag zu werden verspricht, steige ich anderntags den Berg vorne hoch. Dort befinden sich die einzigen Brunnen der Weide. Wie erwartet treffe ich alle Tiere da vorne an. Bei trockenem Wetter gehen sie früh an die Tränke. Alle? Das Neugeborene fehlt. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wie gesagt, lassen die Mütter die frischen Kälber oft an einem versteckten Platz zurück und suchen sie bloß zwischendurch zum Säugen auf.

Ich frage die Kuh, wo ihr Kalb sei. Da geht sie los. Ich gehe mit. Wir steigen zusammen über den Bergrücken hoch bis da hinten, wo ich die beiden gestern antraf. 2 Kilometer. Ohne die Herde. Es ist ungewöhnlich, dass eine Kuh sich alleine so weit von der Herde entfernt.

Das Kalb ist nicht da. Die Kuh schaut über den Steilhang hinunter. Ich folge ihrem Blick. Tatsächlich – da unten ist ein schwarzer Fleck im Gras. Ich steige hinab. Es lebt.

Oben geht die Mutter unruhig hin und her. Für sie ist es zu steil zum runtersteigen. Sie muht immer wieder, um es hochzurufen. Das Kalb blökt zurück. Auch es weiss nicht, wie es da wieder hochkommt. Ich steige hinauf, um ihr einen Weg zu zeigen. Doch der führt erstmal weg von ihrem Ziel. Sie versteht nicht und dreht wieder um. Ich traue mich nicht, Druck auszuüben.

Ich gehe wieder zum Kalb hinunter und warte. Es dauert eine Weile, bis  die Mutter den Weg zu uns findet. Ich beobachte sie genau, wie sie sich uns nähert. Ob sie meine Nähe zum Kalb irritiert? Doch sie schüttelt weder den Kopf noch senkt sie ihn oder scharrt gar mit den Füssen.

Sie stuft mich nicht als Gefahr ein. Im Gegenteil, sie hat mich um Hilfe gebeten.